Über die geschichtliche Entwicklung des Schützenwesens
Vortrag gehalten vor den Delegierten des Kreisschützenbundes Lippstadt am 16. März 1984 in der Schützenhalle Störmede
Bei einer Betrachtung der Entwicklung des Schützenwesens sind vor allem einige Unterscheidungen wichtig: Einmal ist in älteren Quellen der Ausdruck „Schütze“ nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit „Schützenbruder“. Zum anderen verlief die Entwicklung in der Stadt anders als auf dem Lande.
Mit dem Gedanken der Stadt verbinden wir den Begriff Freiheit. Während auf dem Lande, gerade im Hellweggebiet, die Mehrzahl der Landbewohner unfrei, hörig war, erfreuten die Stadtbewohner sich der persönlichen Freiheit. „Stadtluft macht frei“. Wer Jahr und Tag in einer Stadt gelebt hatte, ohne von einem Grundherrn angefordert zu sein, erlangte das Recht eines freien Bürgers. Die Stadt war selbständig in ihrer Verwaltung, trug aber auch die Verantwortung. So oblag in Kriegszeiten dem Bürgermeister und dem Rat die Entscheidung, ob die Stadt übergeben oder verteidigt werden sollte. Die Städte hatten Eigentum, an dessen Nutzung die Bürger Anteil genossen. Endlich boten sie durch ihre Verteidigungsanlagen dem Bürger Schutz. Diese Güter fielen dem Einzelnen wie der Gemeinschaft nicht von selbst zu, sondern mussten von allen gewahrt und verteidigt werden. So kannte die Stadt aufgrund des Rechts, das sie allen Bürgern gewährte, auch eine allgemeine Dienstpflicht. Ein Teil davon war die Wehrpflicht. Es ist ein alter Grundsatz, dass es kein Recht ohne entsprechende Pflicht geben kann. Diese Verpflichtungen waren an den Besitz einer Hausstätte gebunden. Neuen Bürgern wurde bei der Aufnahme in den Stadtverband der Eid abverlangt, die Bürgerpflichten treu zu erfüllen. Außerdem wurde ihnen die Verpflichtung auferlegt, sich ein „schiessendes Gewehr“ und einen Ledereimer zum Rathaus zu schaffen. Zu all diesen Diensten war die Bürgerschaft in bestimmter Ordnung organisiert, von Ort zu Ort verschieden. In Geseke mag die Ordnung ursprünglich nach den vier Hofen erfolgt sein. Spätestens Ende des 16. Jahrhunderts gab es die Einteilung nach den sechs Stadttoren. Für jedes Tor war ein Wachtmeister angesetzt, dem die Bürger in mehreren Korporalschaften zu je 12 Mann unterstanden. Jede Rotte hatte ihren Korporal. An Diensten fielen an: Wegebau, Brandbekämpfung und auch die Verteidigung. Diese Dienstleistungen waren nicht freiwillig,
sondern gesetzlich vorgeschrieben bei Strafe des Eidbruches. Derartige Leistungen wurden auch erzwungen. Als 1729 beim Brand von Störmede Geseker Hilfen alarmiert wurde, geschah es gleich unter Androhung von 2 Reichstalern Strafe bei Weigerung. Aus dieser wehrpflichtigen Bevölkerung bildeten sich freiwillige kameradschaftliche Vereinigungen unter der Benennung Schützenbruderschaft, Schützengesellschaft oder in der Zeit, als man französische Brocken in die Sprache einmischte, Schützenkompanie. Diese Bezeichnungen sind ursprünglich gleichbedeutend und kommen daher für ein und dieselbe Vereinigung vermischt vor. Als man die deutsche Sprache noch ernst nahm und folgerichtig gebrauchte, nannte man die Mitglieder einer Schützenbruderschaft Schützenbrüder, die einer Schützengesellschaft Schützengesellen. Damit sind nicht Mitglieder minderen Rechtes gemeint, wie gelegentlich gesagt wird. In einer Kameradschaft sind alle gleich. Später verengten sich die Begriffe und der Name Bruderschaft wurde nur von Vereinigungen kirchlichen Rechts gebraucht. Das sind Schützenbruderschaften nie gewesen. Sie galten als weltliche Bruderschaften, die mehrfach vorkamen. In Arnsberg gab es eine Paulus-Bruderschaft, die Innung der Wollweber, eine normale handwerkliche Berufsvereinigung, die allerdings im Gegensatz zu den anderen Zünften, den Ämtern, keine kommunal-rechtliche Bedeutung hatte.
Sicherlich hatten die Schützenvereinigungen gleich welchen Namens eine religiöse Grundlage, wie dies ehedem wohl bei allen privaten und öffentlichen Lebensäußerungen Selbstverständlich war. Die Schützen stellten sich unter einen Patron. Die kameradschaftlichen Zusammenschlüsse dienten ohne Zweifel einer Vertiefung des Dienstgedankens aus religiöser Sicht. Dabei spielte auch das Bewusstsein mit, dass Schützendienst eine sehr ernste Seite hat, wobei auch der Einsatz des Lebens gefordert wurde. Manche Beispiele zeigen, wie Bürger beim Schutz der Rechte und Freiheit ihrer Stadt Gesundheit und Leben eingebüsst haben. So fielen bei der Belagerung der Stadt Geseke 1633 fünf Bürger. Mehrmals wurden einzelne getötet, bei Überfällen der Hessen. Als die Geseker sich 1689 der gewaltsamen Einquartierung preußischer Gardetruppen widersetzten, fanden drei Bürger den Tod, zehn wurden verwundet. Auch bei friedlichem Einsatz gab es Verluste, wie 1774 bei einem Großbrand in Störmede ein Geseker Bürger den Tod fand. Schützendienst forderte eine starke sittliche Grundhaltung, deren Pflege sich die Schützenvereinigungen zum Ziel setzten.
Dabei äußerte ihre Kameradschaft sich auch in geselligen Formen, vor allem im jährlichen Schützenfest. Dieses ist wohl eine Parallele zu den ritterlichen Turnieren des Mittelalters, nämlich Kampfspiel mit geselliger Unterhaltung auf der bürgerlichen Ebene als Kämpfer zu Fuß. Dies also ist auseinander zu halten: Schützendienst war gesetzliche Pflicht. Die Menschen sind einander zu allen Zeiten gleich. Sich aus Idealismus für andere einzusetzen, bringen nicht so viele fertig, wie zur Erfüllung der erforderlichen Dienste nötig sind. Die Schützenvereine waren freiwillige Zusammenschlüsse von Kameraden, freilich auch um die Dienstgesinnung lebendig zu halten. Dabei dürfen wir nicht verkennen, dass die alten Schützenvereinigungen an Zahl der Mitglieder sehr klein waren, zum Beispiel haben 1770 in Geseke nur 53 Männer Schützenfest gefeiert. Anderseits nahmen die Schützenvereinigungen im Leben der Stadt eine bedeutende Stellung vor anderen Vereinen ein. So war etwa der jährlich wechselnde regierende Bürgermeister Führer der Bruderschaft. Die Fahnen wurden im Rathaus oder beim Bürgermeister aufbewahrt. Die Stadt zahlte einen Festbeitrag zum Schützenfest, wie in Geseke, wo sie auch den neuen Königshut bezahlte.
Eine andere Entwicklung als in der Stadt hat das Schützenwesen auf dem Lande genommen. Sie setzt erst später ein, möglicherweise im Gefolge der Reform des Reichskriegswesens unter Kaiser Maximilian I., also um 1500. Damals mag auch im Herzogtum Westfalen das Institut der Landschützen eingeführt worden sein, eine Landesmiliz mit Dienstverpflichtung aller tauglichen Männer zwischen 18 und 50 Jahren. Die Geschichte im einzelnen ist noch nicht erforscht und wird sich auch nicht aufhellen lassen wegen der Vernichtung zu vieler Quellen. 1709 verbrannten bei dem Brande des Arnsberger Rathauses zwei große mit Landesakten gefällte Schränke, die im Sitzungszimmer der Räte eine ganze Wand einnahmen. Bei der Besitzergreifung des Herzogtums Westfalen 1802 durch die Hessen war ein Raum im Arnsberger Rathaus mit Akten vollgestopft, dass nichts mehr hineinging und viele andere Akten in Regalen in der Kanzlei lagerten. Die Preußen ließen diese alten Archive im Staats-Archiv zu Münster zusammentragen. Aber vom Landesarchiv blieb ein erheblicher Teil verschollen, bis er im zweiten Weltkrieg in einer Papierfabrik auftauchte als Altmaterial der Arnsberger Regierung. Trotz Einwendung der Fabrik mussten die Bestände auf Geheiß eines Beamten eingestampft werden. Was dabei verloren gegangen ist, weiß niemand.
Aus Einzelnachrichten muss man versuchen, ein Bild vom Schützenwesen zu zeichnen. Die Aufsicht über die Landschützen hatte der Landeshauptmann, ein Adeliger mit Kriegserfahrung. Die Gliederung erfolgte nach den Ämtern. Darin hatte der Richter oder der Gogrefe die Befehlsgewalt. Die Landschützen wurden zu militärischen und zu polizeilichen Aufgaben eingesetzt. Vermutlich gab es im Herzogtum Westfalen, ähnlich wie solche Akten für den Niederrhein noch erhalten sind, Musterrollen, in denen die Schützen nach Tauglichkeit und Bewaffnung eingetragen waren. Aufgrund solcher Listen war ein rasches Aufgebot möglich., je nachdem ob die Regierung Aushebung jedes zwanzigsten, zehnten, fünften oder dritten Mannes angeordnet hatte. Bei einem Einsatz über mehrere Tage erhielten die Landschützen Wehrsold. Er betrug in der zweiten Hälfte des 17. Jahnhunderts im Monat 18 Blamüser = 2 ¼ Reichstaler, knapp die Hälfte des gewöhnlichen Arbeitsverdienstes. Damit mussten die Landschützen ihre Verpflegung bestreiten. Allerdings wurden sie gewöhnlich nicht länger als zwei Wochen eingezogen, damit sie nicht zu lange die häusliche Arbeit versäumten. Zur Zeit der Fehde des Kurfürsten Salentin von Isenburg 1575 gegen Lippstadt bestand die Organisation der Landschützen bereits. Richter und Bürgermeister wurden in Geseke beauftragt, die besten Schützen nach Erwitte zum Sammelplatz zu schicken. Man kannte also bereits eine Unterscheidung der einzelnen Männer. Wie gut die Organisation des Aufgebots klappte, die militärische Führung aber versagte, zeige die Katastrophe des westfälischen Landvolks am 02. März 1586. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hatte Martin Schenck, ein Parteigänger des Kurfürsten Gebhard Truchsess Werl eingenommen. Am Freitag verfügte die Regierung zu Arnsberg ein allgemeines Landesaufgebot. Der dritte Mann sollte eingezogen werden. Am Samstag Mittag war der Magistrat von Volkmarsen, dem entlegensten Ort des Landes, beschäftigt, die Truppen zusammenzustellen. Am selben Nachmittag marschierten die Schützen aus dem Gogericht Erwitte über die Har zum Sammelort, wurden aber von Schencks Reitern angegriffen und zersprengt. Am Sonntagmittag kamen bei Neheim 6.000 – 8.000 Landschützen zusammen, die in 13 Kolonnen hintereinander gegen Werl vorrückten. Auf einer Anhöhe bei Bremen griff Schenck die erste Abteilung an und trieb sie in Verwirrung auf die zweite zurück, die ebenfalls durcheinander gebracht wurde. 400 Reiter zersprengten das große Schützenaufgebot, weil es an einer einheitlichen Führung mangelte. Nur die Abteilungen aus Arnsberg und dem Amt Medebach hielten sich zusammen und kamen ohne große Verluste davon. Am Dienstag sollen mehr als 2.500 Tote beerdigt worden sein. Ein Beispiel der Verwirrung erkennen wir an Friedrich Bernhard von Hörde. Dieser vom Reiteraufgebot ließ Diener und Pferde im Stich und kam am Montagnachmittag zu Fuß in Störmede an. Danach hat man keine größeren Landschützverbände gegen Söldner in offener Feldschlacht eingesetzt. Wenn Alexander von Velen 1622 sagte: “Den Glockenschlag rühren, heißt, die Bauern auf die Fleischbank liefern,“ klang daraus wohl die Erfahrung von Bremen. Im Dreißigjährigen Krieg haben zwar die Landschützen aus dem Amt Olpe einen Militärverband zurückgeschlagen, aber hierbei mag die Taktik des Partisanen-Krieges angewandt sein. Bei einer „miserabilis traegoedia“, die im Mai 1637 die Lippstädter Garnison beim Geseker Siechenhaus anrichtete, kennt man die näheren Umstände nicht, ob die Soldaten Jagd auf ackernde Bauern machten oder ob ein Gefecht stattgefunden hat. Immerhin blieben dabei 20 Bürger aus Geseke. Im übrigen gab es im Dreißigjährigen Krieg zahlreiche Einsätze der Landschützen zur Bewachung von Städten oder Burgen, zur Verstärkung deren Besatzungen, zum Grenzschutz und nicht selten zum Partisanenkrieg. Hierüber liegen besonders Nachrichten aus dem Hochstift Paderborn und aus dem Amt Medebach vor. Auch später gab es immer wieder Aufgebote von Landschützen zu polizeilichen Aufgaben, Verhaftung und Abführung von Verbrechern oder zu Streifen nach verdächtigen Personen. Angesichts dieses häufigen Einsatzes der Landschützen als des bewaffneten Armes der Regierung ist es verständlich, dass es ebenso wie in den Städten kameradschaftliche Zusammenschlüsse der dienstpflichtigen Männer gab, da die Aufgaben ähnlich lagen wie in den Städten. Wann dies geschah, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Sicher sind die Schützenvereinigungen nach dem Dreißigjährigen Krieg allenthalben vorhanden.
Während sich aber das dienstliche Aufgebot der Landschützen nach der Amtsverfassung Gliederte, schlossen sich die freien Vereinigungen auf örtlicher Ebene zusammen. Nicht nur jedes Kirchspiel, jedes Dorf hatte seine Schützenbruderschaft. In diesem Rahmen wurde auch das jährliche Schützenfest gefeiert. Allgemein wurde auf den Vogel, weniger auf die Scheibe geschossen. Dies gilt sicher für die Dörfer der ehemaligen Herrschaft Störmede. Während in der Stadt Geseke Scheibenschiessen stattfand, hatte man in den Dörfern den Schützenvogel, wie die ältesten Königsinsignien zeigen, die einen sitzenden Papagei darstellen. Neben den Vereinigungen der wehrfähigen Männer bestanden im 17. Jahrhundert allgemein auch solche der Junggesellen, der nachgeborenen Söhne und Knechte. Derartige Vereinigungen begingen wohl schon vor dem Dreißigjährigen Kriege ihre Frühlingsfeste, wie dies für Störmede 1624, für Langeneicke 1636 bezeugt ist, wobei man das Entstehen während der Kriegszeit nicht anzunehmen braucht. Jedoch können wir nicht bestimmt sagen, ob es bereits Schützenfeste waren, was nach dem großen Kriege der Fall war. Zum Beispiel besitzt Langeneicke noch eine Königsplakette des Junggesellenschützenfestes von 1669. Schiessspiele nahmen unter den Volksfesten lange Zeit eine wichtige Stelle ein für alle Kreise der Gesellschaft. Auch aus späterer Zeit sind noch Einsätze von Landschützen in großem Maßstab bekannt. Als preußische Gardeeinheiten 1689 sich in Geseke einquartiert hatten und die Regierung einen ähnlichen Überfall auch auf Rüthen befürchtete, sollte diese Stadt durch Landschützen gesichert werden. Der Amtsführer traf morgens um 5 Uhr in Brilon bei dem dortigen Richter ein und überbrachte den Aufgebotsbefehl. Er wunderte sich gleich, dass erst am Abend die Schützen marschfertig sein sollten. Jedoch fanden sich erst am nächsten Morgen einige Männer ein, so dass Nachdruck die Aushebung verstärken musste, bis am nächsten Tage 400 Schützen nach Rüthen in Marsch gesetzt werden konnten. Öfter, auch früher schon, wird über eigenmächtige Entfernung geklagt.
1673 erhöhte die Regierung die Löhnung, damit die Landschützen nicht wegen Mangels an Lebensmitteln auseinander liefen. Solche Erscheinungen lassen auf ein Sinken der Dienstauffassung schließen. Das Landschützenwesen verlor allmählich seine Bedeutung, zumal stehende Heere üblich wurden, wenn auch der Kurfürst von Köln nicht zu den „armierten Fürsten“ zählte. Aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges, der in Westfalen sehr spürbar war, ist kein Aufgebot von Landschützen bekannt. Die Schützenvereinigungen blieben von dieser Entwicklung unberührt. Sie bestanden weiter. Es sind sogar, wie aus Geseke Beispiele bekannt, dass ihnen Aufgaben übertragen wurden, wie sie vordem den Landschützen oblagen, wie Ausübung von Polizeidiensten. Rechtlich freilich blieb die Einrichtung der Landschützen bestehen. So wurden beim Einzug des Kurfürsten Maximilian Friedrich 1767 in Arnsberg Landschützen aus dem ganzen Land zur Parade aufgeboten.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert war die Obrigkeit den Schützenvereinigungen nicht gewogen. In der Zeit der Aufklärung liebte man Brauchtum nicht, das keinen wirtschaftlichen Nutzen brachte. Daher wurden die Schützenfeste eingeschränkt. 1770 durften sie nur einen Tag dauern. Viele alte Schützenvereine wurden in dieser Zeit aufgelöst. Kleine Unregelmäßigkeiten bei Veranstaltungen boten dazu eine Handhabe. Vor allem ermittelte die Regierung, wo weltliche Bruderschaften mit Vermögen vorhanden waren, besonders mit Grundbesitz. Solche Werte sollten nämlich zugunsten neu zu gründender Schulen eingezogen werden.
Die Not der napoleonischen Zeit mag von selbst die Feier von Schützenfesten unmöglich gemacht haben. Der Gedanke der Bürgerwehr dagegen lebte noch einmal auf, als die neue hessische Regierung 1808 gegen das überhand nehmende Verbrechertum Bürgerwachen aufstellte, ohne sich allerdings auf die Schützenvereinigungen zu berufen. Einen großen Aufschwung nahmen die Schützenvereine nach den Befreiungskriegen. Auch die aufgelösten Schützenvereinigungen bildeten sich wieder neu. Der große Förderer der Schützen war der erste Oberpräsident von Westfalen, Freiherr von Vincke. Die führenden Köpfe der Zeit suchten eine geistige Erneuerung im Anschluss an das Mittelalter. Dort sah man die Vorbilder des Bürgersinns, der für Freiheit und Verantwortung für die Allgemeinheit eintrat. Dabei berührte man auch den Gedanken der Volksbewaffnung als eine Form des Einsatzes für das Gemeinwohl. Die Anfänge dieser Haltung hatten schon zu der Volkserhebung gegen Napoleon geführt. Trotz dieser amtlichen Förderung blieben die neubelebten Vereine kleine Gruppen. In Langeneicke war um 1830 ungefähr ein Drittel der Männer Mitglied der Schützenbruderschaft. In Werl ist 1826 von 150 Mitgliedern die Rede. Dabei ist nicht klar, ob dies die Gesamtheit der Schützen war oder die judenfreundliche Mehrheit. 1859 haben in Mönninghausen 27 Männer die Satzung unterschrieben. Wahrscheinlich war dies die ganze Bruderschaft. Gleichwohl fanden die Schützen und ihre Vereinigungen allgemeine oder doch weite Aufmerksamkeit. Nur so ist zu erklären, dass 1844 beim Schützenfest in Westereiden die Gewehre gestohlen werden konnten. Als in Werl 1826 ein Jude ordentliches Mitglied der Schützengesellschaft wurde und als solcher am Schützenfest teilnahm, belagerten 2-300 Salinenarbeiter die Schützen und erregten Straßentumulte, dass Militär eingesetzt wurde.
1857 löste die Zurücksetzung eines jungen Mannes in Lippstadt als König, obwohl er den Vogel abgeschossen hatte, eine lange Zeitungsfehde aus. Umgekehrt rühmten sich die Störmeder im selben Jahr als zum ersten Mal das vereinigte Fest der Männer und Junggesellen gefeiert wurde und ein Knecht den Vogel abschoss, er sei von allen Kreisen der Bevölkerung angenommen worden.
Im 19. Jahrhundert erschöpfte sich die Tätigkeit der Schützenvereinigungen wohl auf dem Gebiet der Geselligkeit. Zwar lebten im Volk noch die Gedanken an die Wehrhaftigkeit des Bürgers als Ausdruck der Mitverantwortung für das öffentliche Leben. Er verband sich mit dem Streben im Bürgertum nach einer Verfassung. Die Regierung stand diesen Richtungen ablehnend und argwöhnisch gegenüber. Dem Wehrgedanken trug die preußische Heeresverfassung Rechnung durch die Zweigliedrigkeit in Linie und Landwehr, wobei diese eine gewisse Selbständigkeit im Sinne der Miliz hatte. Der Widerstreit zwischen dem bürgerlichen Ruf nach Verfassung und der obrigkeitlichen Leitung führte zur Revolution von 1848.
An manchen Stellen wurde die Landwehr Träger des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, so dass sie nach der Revolution im Zuge einer neuen Heeresreform ihre bisherige Rolle einbüsste. Während der Revolution waren in manchen Städten bewaffnete Bürgerwehren gebildet worden. Dass aber die Schützenvereinigungen daran beteiligt waren, lässt sich wenigstens nicht allgemein aussagen. Gleichwohl zogen sie nochmals die Aufmerksamkeit der Staatsbehörden auf sich. Im Jahre 1858 erließ die Regierung eine Verordnung, dass alle Schützenvereinigungen ihre Satzungen zur Prüfung vorzulegen hätten. Diese Maßnahme sollte der Vorbeugung gegen staatsgefährdende Umtriebe dienen. Das Jahr 1858 ist wohl nicht zufällig als Beginn der Regentschaft des späteres Kaiser Wilhelms I., der ein besonders scharfer Gegner alles Revolutionären war. Offenbar waren die Richtlinien der Satzungen durch die Regierung gegeben. Pflege des Heimatgedankens und einer Geselligkeit in geordnetem Rahmen der Sittlichkeit stellten ihre Grundzüge dar. Der Wehrgedanke erscheint nicht mehr. Denn ihn zu erhalten, waren die neu gegründeten Kriegervereine bestimmt. So haben durchweg die Schützenvereinigungen Westfalens Vereinssatzungen aus dem Jahre 1859. Da viele Vereine keine oder nicht formgerechte Statuten besaßen, wurden sie neu aufgestellt. Für etliche Schützenvereine sind sie die ältesten erhaltenen Akten. Daher wollen in diesem Jahre so viele Gesellschaften die Feier des 125-jährigen Bestehens feiern. Das wird durchgehend falsch sein, weil die damals schon bestehenden Vereinigungen eine Satzung vorlegen mussten.
Seit dieser Zeit ist die Rolle der Schützenvereinigungen festgelegt. Eine amtliche Aufgabe haben sie nicht mehr, spielen aber dennoch im Leben ihrer Gemeinde eine maßgebliche Rolle. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sind die Schützenvereine zu den mitgliederstarken Verbänden angewachsen, die sie vordem nie gewesen sind. Eine politische Bedeutung wurde den Schützengruppierungen noch einmal zugesprochen, als die Franzosen 1923 nach der Besetzung des Ruhrgebiets fürchteten, von der Tätigkeit der Schützenbrüder könne eine Gefährdung der Besatzungstruppen ausgehen. Daher verbot auf Drängen Frankreichs die deutsche Reichsregierung in diesem Jahr die Schützenfeste.
Im Dritten Reich wurden auch die Schützenvereinigungen gleichgeschaltet. Sie mussten den Schiessport aufnehmen im Rahmen der Wehrertüchtigung. Insofern kann man von einer Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung des Schützenwesens sprechen, aber nicht im Dienste einer selbstverantworteten Gemeinschaft, sondern eines totalen Staates. Dementsprechend verboten die Besatzungsmächte nach dem Zusammenbruch 1945 die Schützenvereine, gestatteten sie aber bald wieder, als man nachwies, dass sie keine paramilitärische Einrichtung darstellten, sondern kulturell-gesellschaftliche Zwecke verfolgten. Eine gewisse Rolle hat dabei auch das Spiel mit dem Wort „Bruderschaft“ gespielt, das die Schützen als eine angebliche kirchliche Vereinigung bezeichnen sollte. Manche Vereine gaben sich eine Satzung als Heimatverein, was ebenfalls einen Gedanken des Schützenwesens richtig wiedergibt.
Wenn wir so die Geschichte der Schützenvereinigung überblicken, können wir sagen, dass sich die Entwicklung der vergangenen fünf Jahrhunderte in den letzten fünf Jahrzehnten noch einem wiederholt hat.
Walter Wahle